Predigt zum Sonntag Sexagesimä, Lesereihe IV, 27.02.2000

(von Tilman Reinecke) 

TXT: 2. Kor. 12, 1 - 10: 
Gerühmt muß werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren - ist er im Leib gewesen? ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? ich weiß es auch nicht; Gott weiß es -, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen - ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, daß er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Mißhandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark 

Liebe Gemeinde! 
Man kann fünf Jahre Theologie studiert haben und doch werden einen diese Worte immer wieder vor ein Rätsel stellen. Vielleicht erschließt sich dieser Abschnitt der Bibel auf ganz andere Weise, vielleicht erst denen, die den Engel des Satans am eigenen Leib erlebt haben, diesen schmerzhaften Dorn, den man nicht los wird, eine Erfahrung des Glaubens und des Lebens, die auch nicht ohne weiteres zumutbar ist. In einem Buch zu diesem Text steht: "Das ist die Existenz jedes Christen." Wenn man aber jung ist und das Leben gut ist, dann wird das wahrscheinlich fremd sein und auch wenig einladend zum Christsein. Und ehe man nach der Wahrheit dieser Worte sucht, muß man sich eingestehen: Rätselhaft ist und bleibt dies und nicht ohne Widerstand hinzunehmen, denn: Sich der Schwäche zu rühmen, das kann höchst verdächtig sein. Da weigert sich vielleicht einer, seine Kraft einzusetzen. Was willst du von mir erwarten? Ich bin doch so schwach. Wie eine Diktatur kann es sein, wenn jemand immer auf seine Schwäche hinweist. Andererseits: Wer freut sich nicht, wenn er die Kraft seines Lebens spürt, gerade in der Jugend!? Völlig zu Recht und das ist gesund! Und wenn ein Kranker wieder gesund wird, fühlt, wie die Kräfte zurückkehren. Das Krankenbett wieder zu verlassen: Welche Wohltat, welcher Grund zum Dank! Das muß doch wahr bleiben. 
Die heutige Psychologie weiß, wie wichtig ein gesundes Selbstbewußtsein ist. Wo es fehlt, da ist Krankheit nahe. Wir wissen schon um die Kehrseite, die das hat, nämlich die Selbstüberschätzung und den Leichtsinn. Das Geschehen auf unseren Straßen spricht da eine eigene Sprache. 
Schließlich ist unser Alltag ganz anders. Nur wer von sich Reden macht, Power hat, erscheint auch stark. 
Auf der alltäglichen Ebene werden wir den Worten des Paulus nicht näher kommen, auch er selbst scheint dem Geschehen wie ein Fremder gegenüberzustehen. Er sagt: Ob im Leib oder außer dem Leib, ich weiß es nicht. So, wie er spricht, könnte man gut sagen: Er weiß es nicht, ob er es überhaupt selbst war. Es war wohl wie ein Tod und Auferstehen, das er erlebte. Entrückt bis in den dritten Himmel, ins Paradies, unaussprechlich schön, Worte der Herrlichkeit zu hören, die man auf der Erde weder sagen kann noch darf. Aber dann muß er doch mit den Füßen auf der Erde bleiben. Das Erlebnis ist und bleibt für ihn prägend. Aber nur für ihn allein. Was sichtbar bleibt und ist, das ist sein Ruf, diesem Gott in Christus zu folgen. Und es bleibt der Pfahl im Fleisch, die Schwachheit. Und das flehentliche Gebet, das wohl erhört wird. Doch es ist ein Ja und ein Nein zugleich. Wörtlich: Ausreichend sei für dich meine Gnade, meine Kraft kommt in der Schwachheit zum Ziel. Luther übersetzt den bekannten Vers: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. 
Vom Paradies war die Rede, von der Sehnsucht nach dem ewigen Garten Gottes im Ursprung unserer Seele. Vertrieben aus dem Paradies so fühlen wir uns, denn alles, was an Freude wir erleben, das ist gebrochen, durch Altern und Tod, durch die Sünde, das die Trennung von Gott durch Schuld und die Tragik des Lebens. Denn das Zerbrechen der reinen Freude erlebt schon das Kind, das weint. Und erwachsen zu werden, das heißt auch zu leben, wenn die Kinderträume zerbrechen und vielleicht auch ein kindlicher Glaube. Ein Dichter unseres Jahrhunderts, Hermann Hesse, schreibt in seinem Buch "Morgenlandfahrt": "Verzweiflung ist das Ergebnis eines jeden ernstlichen Versuches, das Menschenleben zu begreifen und zu rechtfertigen. Verzweiflung ist das Ergebnis eines jeden ernstlichen Versuches, das Leben mit der Tugend, mit der Gerechtigkeit, mit der Vernunft zu bestehen und seine Forderungen zu erfüllen. Diesseits dieser Verzweiflung leben die Kinder, jenseits die Erwachten." Spätestens dann, wenn ein Gebet nicht erhört wird, kommt der Kampf mit dem Zweifel und häufig erlischt der Glaube. Wohl bekennen wir uns zum allmächtigen Gott. Doch aus dem Augenschein ist der menschenfreundliche Gott ein schwacher Gott, wenn wir auf das Leid der Welt sehen oder gar auf das Kreuz. Denn am Kreuz endet seine Menschenliebe. Und darunter höhnen die Schaulustigen: "Ist er Gottes Sohn, dann steige er vom Kreuz." Gott scheint eher auf der Seite der Starken zu stehen. Und doch: Es gibt eine andere Erfahrung. Immer wieder sagen die Menschen davon: In der Tiefe des Leidens, an den Schattenseiten des Lebens, im Reich der Tränen, da ist eine andere Kraft, eine Kraft, die erst wirksam wird, wenn unsere eigene Stärke nicht mehr reicht, die tröstet, die sich genügen lassen kann an dem, was Geschenk und Gabe ist. Das hebt das Leiden nicht auf. Aber vielleicht reicht das Paradies und seine Kraft doch dorthin. Vielleicht wird es uns dann erst bewußt, wenn das, was wir am Ende damit sind, die Früchte des irdischen Gartens zu pflücken. Das aber sollte man tun, weil es auch Gottes Garten ist. Doch dann wird es seine Kraft, die uns hält nicht unsere Kraft ist, sondern Gottes Kraft und eine tröstliche Kraft, die auch standhält, wenn wir nicht mehr stark sein können. 
Es kann auch dann Gottes Kraft sein, wenn ein Mensch den anderen bei der Hand hält und tröstet. Und da entsteht eine Gemeinschaft, die unter Gottes wahrem Wort steht, aus ihm die Kraft schöpft. 
Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen für unsere kleinen Gemeinden, an deren Schwächen wir leiden. Weil nach dem Augenschein die Kraft und die Macht der Kirche schwindet, vielleicht wächst ihr neue Kraft zu, daß sie eine alte Kraft neu erfährt: Laß Dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den schwachen mächtig. Möglicherweise sind wir doch stärker, als wir meinen, aus der Kraft Christi. 
Amen. 
Kanzelsegen. 
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. 

Tilman Reinecke