Predigt zum Sonntag Sexagesimä, Lesereihe II, 15.2.2004

(von Tilman Reinecke) 

TXT: Hebr. 4, 12-13:
Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.
 

Liebe Gemeinde!

Wie kann der unsichtbare Gott zum Menschen reden, den wir nicht einmal mit Hilfe der Wissenschaft beweisen können? Was ist es mit dem Wort Gottes? Nun gibt es darauf Antworten, die wir gelernt haben. wenn wir von Kind an im Glauben aufgewachsen sind. Und diese Antworten sind keineswegs falsch: In der Bibel begegnet uns Gottes Wort. Und die Bibel ist und bleibt das wichtigste Buch des Glaubens. Ohne die Bibel kann keine Gemeinde bei ihrem Herrn bleiben. So heißt es in Goethes Faust: Was du schwarz auf weiß besitzt, das kannst Du getrost nach Hause tragen. Soweit gut. Als ich zur Christenlehre ging, hat mich einmal eine Geschichte beeindruckt, die die Katechetin vorgelesen hat. Die ging so: Bei einer Haustaufe kam der Pfarrer aus einem weit entfernten Dorf zu Fuß. Als er seine Sachen auspackte, stellte er fest, daß er seine Bibel vergessen hatte. Da sagte er zu den Leuten: "Ach, ich habe meine Bibel vergessen. Gewiß haben Sie doch eine im Hause." Verlegenes Schweigen und Suchen begann, bis die sechsjährige Schwester des Täuflings sagte: "Aber wir haben doch eine! Sie liegt unter dem Sofa!" Nun ja, da haben sich die Erwachsenen wohl ganz schön geschämt. Vom Sofa war ein Bein abgebrochen. Und da hatte man dann die alte Familienbibel untergelegt. Aber die Familienfeier war doch gerettet. Man kann eine Bibel haben, aber, wenn man in ihr nicht liest oder ihr Wort nicht vorgelesen bekommt, dann wird sie kaum zu uns reden. Man kann noch weitergehen: Auch wenn einer die Bibel auswendig kann, so ist noch nicht gesagt, daß er Gottes Stimme wirklich hört. Paulus schreibt: Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig. Und hier im Hebräerbrief wird auch vom lebendigen Wort gesprochen.
In der theologischen Erklärung von Barmen sagte man vor 70 Jahren im Angesicht der Hitlerregierung: "Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben."

Durch Jesus Christus hat sich Gott geoffenbart, gezeigt, wie er ist. Und wir sehen, wie da schon viel mehr gemeint ist, als ein Wort, das man mit Buchstaben schreiben kann. Denn da sind Jesu Worte, die er gesprochen hat. Aber es ist noch mehr. Es ist das Geschehen von Kreuz und Auferstehung. Gott begibt sich auf die Ebene des Menschen, begibt sich in unser Schicksal, in unser Leiden, setzt sich dem aus, daß er nicht verstanden wird, daß er anderen hilft, Menschen heilt, und schließlich hilft ihm selbst keiner. Er betet, doch sein Wunsch wird nicht erfüllt, daß das Leiden an ihm vorüberginge. Sein Leben endet mit dem Schrei: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Damit ist er doch den Menschen ganz nah, die in der tiefsten Verzweiflung sind. Und dennoch, im letzten Augenblick spricht er: "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist." Zu ihm aber stellt sich Gott. Auf unbegreifbare Weise geschieht es: Er bleibt nicht im Tod, auch wenn die Menschen ihn für tot erklären. Und das wird auch heute noch versucht, etwa wenn es heißt, daß das Geld das wichtigste sei auf Erden und die Macht und die Art, wie man am besten durchkommt, Gott stellt sich dazu, daß die Liebe recht behält. Nicht unbedingt zu beweisen ist das, aber im Leben und im Glauben zu erfahren, ein Wort Gottes.

Wie spricht Gott, wie kann man ihn, wie kann man sein lebendiges Wort heute hören? Unsere Zeit drängt uns dazu, diese Frage sehr genau zu bedenken. Dabei kann die biblische Botschaft selbst sehr hilfreich sein. Es gibt in der Bibel nämlich eine Erfahrung, die Erfahrung von Gottes Schweigen. An vielen Stellen des Alten Testaments wird davon berichtet, daß man das Schweigen Gottes erlebt. Es scheint geradezu so zu sein, daß man von Gottes Wort nur sprechen kann, wenn man auch von seinem Schweigen weiß. Und diese Erfahrungen sind uns ganz nahe: Im 22. Psalm heißt es: "Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe." Wie vieles muß im Leben ertragen werden. Und es gibt keine Antwort auf das quälende Warum. Hilflos steht man dann auch dem Argument gegenüber: Wenn ein Gott wäre, müßte er es doch ändern. Auch wenn wir wissen: Vieles vom Elend der Menschen ist selbst verschuldet, so scheint er doch dazu zu schweigen und wir wissen nicht, warum und wozu. Ja, Gott bringt uns Menschen möglicherweise zuerst zum Schweigen. Denn angesichts dessen, was wir als Schicksal erfahren, werden unsere Worte sinnlos. Aber wenn unsere Worte schweigen, dann kann es geschehen, daß er redet. Das AT berichtet davon daß Elia Gott erfährt, nicht im Lärm eines Sturms, nicht im Feuer und auch nicht im Erdbeben, sondern in der "Stimme des Schweigens", wie es im 1. Königsbuch heißt. Die Erfahrung von Gottes Schweigen, die ist deutlich, vielleicht aber auch dies: es ist zuviel Lärm auf dieser Welt. Da kann es sein, daß die Stimme Gottes nicht hörbar wird, vielleicht nicht einmal hörbar werden soll. Aber worin besteht nun dennoch sein Reden? Die Worte des Hebräerbriefes sagen es auf eine eigentümliche Weise: Das Wort Gottes ist lebendig, ist schärfer als ein "zweimündiges" Schwert: Es schneidet mitten in Seele und Geist auch Mark und Bein. Und es richtet uns. Nichts können wir verbergen. Eine Mitstudentin erzählte mir mal, daß es sie als Kind so richtig gestört hat, daß Gott alles sieht: Wenn sie aufsteht, wenn sie spielt, wenn sie ins Bett geht. Ja, so sagte sie, "nicht mal auf der Toilette fühlte ich mich unbeobachtet". Nun ja, das ist eine niedliche Geschichte, aber es ist etwas viel Einschneidenderes gemeint: Wir können nichts von dem verbergen, was uns bewegt. Menschen können wir vielleicht täuschen über die Wahrheiten unseres Lebens und Tuns. Wir verbergen auch manches vor uns selbst. Aber Gott weiß es, eben auch das, wovor wir die meiste Angst haben und was wir uns am meisten wünschen, worauf wir nicht angesprochen werden wollen. Das kann schon beängstigend sein. Aber Gottes Wort erreicht auch Menschen, ohne daß sie es selbst wissen, daß Gott zu ihnen spricht. Es gibt Erlebnisse, die mitten durch Leib und Seele schneiden. Manchmal merken wir, daß wir uns selbst nicht bis in die Tiefe kennen und eine Wahrheit wird offenbar, die auch schnei-dendes, unterscheidendes hat. (Ps. 90: Unsere unerkannte Sünde stellst du ins licht vor deinem Angesicht). Und das spricht uns an im Schweren, aber auch im Guten. Wie kann ein Verlust oder eine Krankheit uns, ja un-ser ganzes Dasein verändern! Oder aber Rettung aus einer großen Not. Aber auch: Wie ver-ändert uns Liebe... . Und in dem allen redet eigentlich Gott zu uns und zu allen Menschen, sicher auf eine Weise, wo uns die Worte fehlen.
Menschen können uns mit helfenden oder auch mahnenden Worten zu Boten Gottes wer-den. Zu anderen spricht Gott durch Wissenschaft und durch die Musik oder durch ein anderes Kunst-werk. Gottes Wort verkleidet sich in menschliche Worte und menschliches Geschehen.

Aber zum Schluß wollen wir doch noch einmal zurückkehren zu Christus als Wort Gottes. Alles Reden Gottes kann unverständlich bleiben oder falsch verstanden werden. Für uns Christen gibt es einen deutlichen Maßstab für das Reden Gottes, nämlich das Leben Christi, sein Sterben und Auferstehen. Denn wie schneidend wir immer Gottes Schweigen oder Reden erleben mögen. Es ist das Wort, daß durch alle unsere Erfahrung, auch trotz Traurigkeit und Tod, er doch ein Gott des Lebens ist, ein Gott der Güte, der unsere Seele liebt und zum Heil verwandeln will. Es wird unsere Lebensaufgabe bleiben, auf ihn zu hören.

Kanzelsegen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.