Predigt zum Sonntag Oculi, 08.03.2015

(von Tilman Reinecke) 

Predigttext: Lukaevangelium, Kap. 9, 57 - 63

Als sie auf ihrem Weg weiterzogen, redete ein Mann Jesus an und sagte: Ich will dir folgen, wohin du auch gehst. Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Zu einem anderen sagte er: Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst heimgehen und meinen Vater begraben. Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes! Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich von meiner Familie Abschied nehmen. Jesus erwiderte ihm: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.

Liebe Gemeinde!

Ungewöhnlich hart wirkt dieser Text. Man möchte Jesus ins Wort fallen und widersprechen: Wie kannst Du nur so etwas verlangen? Ist es nicht ge­ra­de eine Not unserer Zeit, dass die familiären Bindungen nicht mehr halten? Dass Menschen einander verlassen, ohne ein Wort zu sagen, rücksichtslos? Ohne zurück zu sehen? Ist es nicht gerade Aufgabe der Christen, der Kirche, sich für die Erhaltung von Familien einzusetzen. Wir wissen auch, wie wichtig für Menschen die Trauer und die Pietät ist. Und dann gibt es ja auch noch das Gleichnis vom verlorenen Sohn? Da erzählt Jesus, wie sich der Sohn, nachdem er seines Vaters Gut verprasst hat, zurückbesinnt und zurückkehrt in seine el­ter­liche Familie?

Hier aber ist der Anspruch ganz radikal, keinen Aufschub duldet das. So sagt er selbst. Das ist unser Wochenspruch: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes. Wenn wir diese Worte verstehen wollen, ist es schon wichtig, dass wir sehen, was der ersten Christenheit dies bedeutet hat. Da war es ein häufiges Geschehen, dass der Glaube Risse in die Familien brachte. Da war ein Familienmitglied Christ/Christin, die anderen aber nicht. Und dann gab es die Entscheidung: Entweder die Familie oder Christus. Von Pe­trus wird auch berichtet, dass er seine Familie verließ, um mit Jesus zu ziehen. Wir sehen, der Anspruch Jesu war und ist ganz total und nimmt ei­gentlich keine Rücksicht auf Familienbande. Jesus war ein wandernder Prediger, heimatlos geworden unter den Menschen. Im Markusevangelium gar setzt sich Jesus deutlich von seiner Familie ab. Dort lesen wir: Seine  Verwandten wollten ihn verstecken, weil sie meinten, er sei verrückt. Jesus antwortete: Wer sind mein Vater und Mutter und Brüder und Schwestern? Es sind die Menschen, die den Willen Gottes tun. Martin Luther dichtete: "Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr Kind und Weib: Lass fahren dahin, sie ha­ben's kein Gewinn, dass Reich Muss uns doch bleiben.“ Bedenken wir wirklich die Härte dieser Worte, wenn wir das singen?

Neben vielem, was die Familie stützt, gibt es in der Bibel auch ein Gegengewicht - Familienkritisches, wie wir gesehen haben, vor allem dann, wenn Familienbande Aufbrüche verhindern. Und das mit dem sogenannten christlichen Leitbild von Ehe und Familie ist eben trotz aller positiven Seiten, die es hat, eher doch ein von Traditionen geprägtes kirchliches Leitbild.

Auch in jüngerer Vergangenheit spielte dieser unbedingte Anspruch Jesu eine Rolle. In der Nazizeit stan­den auch viele gläubige Menschen in dem Kon­flikt: Wenn sie Widerstand leisten wollten, konn­ten sie schließlich keine Rücksicht auf ihre Fa­mi­lie neh­men, für die sie Verantwortung übernommen hatten. Und auch zu DDR-Zeiten war das Problem ja nicht un­bekannt.

Eigentlich ist es ja sehr gut, dass in der Bibel auch die unbequemen und kantigen Texte geblieben sind, dass man sie nicht irgendwann gestrichen hat.

Nun, wir leben ganz anders als Jesus: Die Füchse haben Gru­ben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege." Das scheint ja für uns nicht zu gelten. Wir wohnen in Häusern, wir wissen, wie wichtig uns das Heimatgefühl ist. Immer wieder stau­ne ich darüber, dass manche sehr alte Menschen im selben Hause, wenn nicht gar im selben Zimmer sterben, in dem sie auch geboren wurden. (Ich fin­de das etwas besonderes, denn Pfarrer sind ja in ge­wisser Weise fahrendes Volk. Es kommt sehr sel­ten vor, dass jemand Pfarrer in seinem Heimatort wird.) Aber trotz allem: In den Worten Jesu bleibt ein Stachel, etwas Aufregendes, wir spüren das: Lasst die Toten ihre Toten beklagen. Wer zurück­schaut, ist nicht geschickt zum Reich Gottes. Und dieser Stachel muss bleiben, weil er ein Weckruf zum Leben ist. Wir neigen doch dazu, uns rückwärts zu orientieren nach einer anscheinend besseren alten Zeit. Wir neigen sehr dazu, Rücksicht darauf zu nehmen, was "man" tun darf oder nicht, was andere dazu sagen, wenn wir tun, was wir eigentlich für richtig erkennen.

Wenn wir das aber bedenken und aushalten, was bleibt dann von unserem Sein, was müssten wir dann eigentlich tun?

Ich denke, wir kommen diesen harten Worten nur näher, wenn wir uns dessen vergewissern, dass es eine ganz grundsätzliche Liebe Gottes gibt, die uns erst einmal nimmt wie wir sind, eben auch mit unseren trägen Seiten. Gott weiß, wie sehr wir uns sehnen nach einer Behausung im Leben, ja wie bedürftig wir auch sind, dass wir einen Grund haben, auf dem wir stehen können. Gott sieht auch unsere Ängste. Die Gefahr ist aber wohl hier eine andere: Es gibt Zeiten in unserem Leben, wo wir gerufen sind, Neues, Fremdes in an uns heran zu lassen, wo es uns nicht mehr nützt am Alten festzuhalten, es sei denn, wir verpassen die eigentlichen Chance unseres Lebens. Es ist nicht leicht, dafür ein einfaches Beispiel zu finden, denn das kann für jeden Menschen etwas Besonderes und vielleicht Befremdliches sein, anders sein, möglicherweise die Begegnung mit dem Göttlichen. In der Bibel aber wird immer wieder davon gesprochen, dass Gott in ein Leben kommt und es verändert – verwandelt, Umkehr bewirkt. Die Geschichte, die wir vorhin von Elia hörten mag so ein Beispiel sein oder aber auch die von Abraham, der Gottes Stimme hört: Geh aus deines Vaters Haus. Da ist er 75 Jahre alt. Und das kann eben bedeuten, dass alles Gewohnte unwichtig wird und wir vielleicht Erstarrtes hinter uns lassen zu müssen. Vielleicht könnten Sie aus Ihrem Leben eine Geschichte selbst hierzu erzählen. Es wird wohl nicht jeder von uns eine solche deutliche Lebenswende erfahren. Aber wir sollten unsere Ohren und Augen offenhalten, neue Wege zu sehen, bereit sein, auch Fremdes in uns zuzulassen – möglicherweise ist es ja ein Ruf Gottes. Und es geschieht doch auch bei uns, dass Menschen, die viele Jahre nicht miteinander sprechen konnten, dass Unversöhnte vergeben können und wieder zueinander finden. Jedenfalls sollte man diese Hoffnung nie aufgeben. Immer da, wo solche Verwandlungen stattfinden können, da wird etwas vom Himmel wahr. Diese ungewohnten und vielleicht beängstigend neuen Schritte ist Jesus mit den Menschen gegangen, um die Versöhnung mit dem Ewigen und Licht und Heilung zu ermöglichen. Ja, wir denken in diesen Wochen auch daran, dass er damit den Hass von seelisch erstarrten Menschen auf sich zog, der ihm den Tod brachte. Doch jenseits des Kreuzes wuchs neues Leben und Hoffnung, geschah Auferstehung.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.