Predigt zum 4. Sonntag nach Trinitatis, Lesereihe III, 27.06.1999

(von Tilman Reinecke) 

TXT: 1. Mose 50, 15 - 21:
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, daß sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Liebe Gemeinde! 
Wenn Eltern sterben, dann ist es oft aus mit dem Frieden unter den Kindern. Und die ängstlichen Gedanken der Brüder Josefs sind nur zu verständlich. Was haben sie ihm alles angetan? Als er noch ein halbes Kind war, da wollten sie den altklugen Jüngling erst töten. Nur seines ältesten Bruders, Einwand rettete ihn vor dem Tod. Verkauft wurde er an Fremde nach Ägypten. Den Vater Jakob täuschten sie, Josef sei tot. Und so mußte Josef durch schwere Zeit in der Fremde. Arbeit und Anerkennung, Versuchung und Gefängnis war dabei. Doch er gelangte zu Ansehen und zu einem hohen Amt. Dann fanden sich die Brüder wieder, Josef wurde der Ernährer seiner Familie in schweren Jahren der Dürre und des Hungers. Der Vater durfte sich freuen: Sein liebster Sohn lebt. Es war alles gut gegangen. Nach des Jakobs, des Vaters Tod nun hätte Josef die Möglichkeit, sich zu rächen für alles Unrecht, das ihm seine Brüder getan haben. Verhungern lassen könnte er sie. Vorsichtig versuchen sie, gut durchdacht, dem vorzubeugen, was sie so sehr fürchten. Rache. Auch das ist verständlich. Wo wir Menschen in Gefahr kommen, da versuchen wir alles, uns zu schützen. Dazu haben wir doch unseren Verstand, die Möglichkeit, vorauszuschauen und berechnend vorzubeugen. Das ist sogar normal und spielt in unserem Leben eine große Rolle. Und so erwarten sie die Abrechnung.
Aber es kommt ganz anders, da ist ein starker Mann, der weint. Man sollte vielleicht, bevor man hier von Gottes Plänen spricht, das menschliche Herz des Josef sehen. Wohl war er als guter Rechner bekannt, konnte mit kühlem Kopf die Dinge ordnen und haushalten. So hatte er ja den hohen Staatsposten erworben. Doch es ist ein Herz, das ganz anders fühlt und denkt als die Brüder in ihren kleinlichen Gedanken. Und da sind Fragen, die uns nahe sind. Wie kann man mit Bosheit umgehen? Darin liegt vieles von der Tragik des Daseins. Es ist nicht so einfach, daß man als Christ alles vergeben und vergessen kann. Schon um uns zu schützen, müssen wir etwas dagegen unternehmen, wenn wir angegriffen werden. Und ein Staat muß Strafen aussprechen, wo die Ordnung und das Zusammenleben gefährdet werden, sonst werden wir zum Spielball fremder Bosheit. Und es muß auch Genugtuung geben für die Opfer von Gewalt und Verbrechen. So ist das Leben. Nur eben hat auch das seinen Schatten: Es entsteht eine "schiefe Bahn", die die bestraften noch boshafter macht, statt sie zu bessern. Und wo wir uns wehren, da entsteht auch Haß gegen uns. Und die Systeme der Vergeltung, die machen unsere Welt vielfach so böse. Könnte es nicht auch sein, daß die Welt das braucht, daß nicht im Sinn von Rache und Vergeltung gehandelt wird, um den Kreislauf des Bösen zu unterbrechen? Dabei sieht Josef auch nicht über die Taten seiner Brüder hinweg, sondern er spricht es aus: "Ihr gedachtet es böse zu machen." Aber er sieht noch weiter und dazu bewegt ihn nicht nur sein Glaube, sondern seine Liebe, die ihm aus dem Vertrauen auf Gott erwächst.
Was bewegt uns, wenn wir im Leben entscheiden? Nur die Berechnung einer kalten Welt, oder ist es vielleicht auch Liebe, sehendes Vertrauen, das, was den Josef öfter weinen ließ? "Bin ich an Gottes Statt? Denn so spricht der Herr: Die Rache ist mein, ich will vergelten."
Doch sein Glaube lehrt ihn auch, das etwas anderes "dran" ist als kleinliche Vergeltung. Es geht um Gottes Plan, um sein Volk, das er erhalten will. Und diesen Plan konnten Menschen, konnten seine Brüder mit ihrer Bosheit nicht hindern. Mehr noch: Gott hat ihr Handeln mit in seinen Plan eingebaut. Das ist, wenn man hinschaut, allerdings starker Tobak. Was wäre denn eigentlich gewesen, wenn die Brüder Josef nicht nach Ägypten verkauft hätten? Dann wären sie selbst doch glattweg in den dürren Jahren verhungert! Ihre Bosheit wird ihnen geradezu zum Segen, weil Gott sie verwandelt. Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.
Bis zur Verzweiflung bringt kann uns diese Frage immer wieder bringen: Schweigt Gott angesichts des Bösen in der Welt? Ist er vielleicht doch daran beteiligt? Geht das Schicksal nicht gnadenlos über unser Leben hinweg? Ein Seelsorger sagte mir letztens: "Je älter ich werde, um so schwerer wird es mir, Gottes Willen hinzunehmen, wenn ich sehe, wie Menschen schuldlos leiden müssen an Bosheit, aber auch an Krankheit und Unglück; gerade auch dann, wenn ich bei meiner Arbeit sehe, daß Kinder in den Kliniken sterben. Näher sind uns dann wohl die Klagen der Psalmen, die Gott anklagen, wie es selbst Jesus tat: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe." Und wenn wir glaubwürdig bleiben wollen, dann gibt es darauf keine einfachen Antworten, sondern nur das Eingeständnis: Auch wir wissen es nicht. Wenn jemand es lernt, auch in der schwere seines Lebens Gottes Willen zu sehen, dann ist es ein langer Weg. Auch Josef wird wohl lange gebraucht haben, bis er in seinem Schicksal Gottes guten Willen erkannt haben mag. Doch dann konnte er seine Brüder trösten und ihnen zu "Herzen reden", wie es im Hebräischen Urtext heißt. Denn er sah mit dem Herzen.
Wir dürfen mit dem Neuen Testament das Alte lesen, von dem tiefen Vertrauen Jesu, daß Gott doch ein guter Gott bleibt, kein Gott der Rache. Jenseits alles Bösen, jenseits von aller Schuld und jenseits des Sterbens verwandelt er die Trauer und das Leid. Und in seinem Geist können wir uns und andere trösten und freundlich zu ihnen reden - zu Herzen. Fürchtet euch nicht!
Amen.
Kanzelsegen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Tilman Reinecke